Sérac für Orchester (2014/15)
4.4.4.4-8.4.4.1-pauke.4perc-14.12.10.8.6
(25 min)

Verlag
Boosey & Hawkes Berlin

Uraufführung
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Peter Eötvös, Donaueschingen, 16. Oktober 2015

Texte
Gedanken während des Kompositionsprozesses zu Sérac für Orchester (2014/15)

Handlungen und Entscheidungen (nicht jede Handlung folgt einer Entscheidung) ziehen Konsequenzen und Ergebnisse nach sich, die oft nicht unmittelbar (d.h. kausal) aus den Handlungen ableitbar sind.

Beziehung:
Was sich aufeinander bezieht und zusammen „erdacht“ wurde, muss nicht unbedingt nebeneinander stehen. Die Beziehung bleibt auch über längere Strecken hinweg bestehen.
=> Fernbeziehung

Extrem unterschiedliches Material wird vergleichbar durch die Funktion (oder Position), die es innehat.

Sérac:
2008 kamen 11 Bergsteiger am K2 ums Leben – die Mehrzahl der tödlichen Unfälle ereignete sich am sogenannten Flaschenhals, der von Séracs umrahmt wird. (Séracs sind turmartige Formationen aus Gletschereis, welche sich an den Abbruchkanten von Gletschern bilden und oft unvorhergesehen einstürzen können.)
Es liegt mir fern, diese Tragödie künstlerisch „nachzuzeichnen“. Mich interessiert, wie aus einigen (teils unbedachten, naiven) Entscheidungen und Handlungen eine ganze Kette von Ereignissen ausgelöst werden kann, deren Eigendynamik so stark wird, dass die folgenden Prozesse nicht mehr rückführbar auf das auslösende Moment scheinen.

Mittelbarkeit <=> Unmittelbarkeit:
Etwas steht unvermittelt nebeneinander. Die Unmittelbarkeit bezieht sich immer auf unser Verständnis, ist also zumeist eine „scheinbare“ Unmittelbarkeit. Die Vermittlung erfolgt beispielsweise auf ganz anderer Ebene, oder sprunghaft: etwas unvermittelt „Interpoliertes“ bezieht sich vielleicht auf weit Vorausgehendes und ist somit in der Lage, gerade durch die scheinbare Unmittelbarkeit des Kontrasts einen Kontext, Prozess, etc. zu verändern. Der Kontrast provoziert den Hörer, welcher fast automatisch zu vermitteln versucht und meist auch eine (wenn auch weit entfernte) Verbindung findet – darauf spekulierend kann ich als Komponist aufbauen. Ich beziehe somit etwas in die Komposition, was außerhalb liegt, was erst bei der Aufführung, der Rezeption entsteht. Die Komposition steht nicht isoliert für sich selbst.

Sérac als Schlüsselstelle der Expedition:
Man muss mit der Gefahr umgehen, dass der Sérac jederzeit einstürzen kann. Das „Nicht- Existente“ wird so Teil der Realität. Die Möglichkeit zwingt zum Handeln.

Entdecken:
Pädagogischer Aspekt: als Komponist entdecke ich nicht zufällig, sondern schaffe eine Umgebung, die das Entdecken ermöglicht. Doch kann der Komponist nur zum Teil lenken und wird durch eigenes Entdecken selbst gelenkt.

Sérac als Metapher:
Das Einstürzen und Verschütten verdeckt bisherige Zusammenhänge und sicher geglaubte Kontexte, eröffnet aber die Möglichkeit, einen Blick auf vorher Verschüttetes zu werfen, auf Beziehungen, Kontraste etc., welche viele Dinge in einem anderen, „neuen“ Licht erscheinen lassen. (explizit <=> implizit)

Geheimnisse:
Teilaspekte eines Geheimnisses müssen gelüftet werden, um das Interesse aufrecht zu erhalten. Werden die Teilaspekte wichtiger als das Geheimnis selbst, kann sich eine Dynamik entwickeln, die interessant und gefährlich-trügerisch gleichermassen ist:
– interessant, da hiermit ein nur kleines, unwichtiges Ding („das Geheimnis“) plötzlich Auslöser einer Kette von ungeahnten Ereignissen werden kann, welche Aufmerksamkeit, Beschäftigung, Aktivität etc. fordern.
– gefährlich-trügerisch, da es sich um einen Betrug oder auch Selbstbetrug handelt, welcher schnell Rechtfertigung für „Ungerechtes“ werden kann.

Informationsdichte <=> Klangdichte

Welten entdecken:
– nicht voneinander getrennte Welten, sondern Welten, die auseinander hervorgehen

Etwas Existierendes wird bei der Entdeckung oder Wiederentdeckung neu erschaffen. Man bewegt sich darin, wird Teil, verändert – verändert auch sich selbst.

Frage: Kann etwas Bekanntes, etwas mit einer Geschichte, herausgelöst aus dem bekannten Kontext, als Material neu entwickelt werden? Liegt die Doppeldeutigkeit im Material selbst, als Möglichkeit, die wir erkennen?

Max Frisch, Tagebuch 1946-1949:
„… die handwerkliche Sorge verschwindet hinter der sittlichen, deren Verbindung wahrscheinlich das Künstlerische ergibt, und darum kann niemand machen, was er an den Alten bewundert: weil er es bestenfalls machen, aber nicht erfüllen kann.“

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